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Sozialinformatik - Lebensinformatik - Life Engineering


Hubert Oesterle


Vor 50 Jahren wurde aus der "Betriebsinformatik" die "Wirtschaftsinformatik". Damals wurde die Sichtweise "Betrieb" als zu eng angesehen. Sollte die Wirtschaftsinformatik nun zur Gesellschaftsinformatik werden? Oder, aus der Sicht des Menschen, Lebensinformatik? Oder ein designorientiertes Life Engineering?


Quantensprung in der soziotechnischen Evolution

Der technologische und gesellschaftliche Wandel erfordert dringend eine Neupositionierung. Hunderttausende von digitalen Diensten verändern alle Bereiche unseres Lebens, unseres Zusammenlebens und unseres Wirtschaftens. Sie sammeln dabei so viele Daten, dass viele Autoren bereits den Begriff "Human Digital Twin" verwenden. Intelligente Algorithmen und die Leistung spezialisierter Prozessoren machen es möglich, auf der Grundlage dieser Daten das menschliche Verhalten zu analysieren, vorherzusagen und zu beeinflussen. Dieses Wissen ist die Grundlage dafür, den Menschen immer neue und bessere Dienstleistungen anzubieten.


Risiken und Chancen

Wenn all diese Digitalisierung der Lebensqualität der Menschen dient, sind wir auf dem Weg in ein digitales Paradies. In der Tat sind mit den meisten Dienstleistungen Chancen UND Risiken für den Einzelnen und die Gesellschaft verbunden. Die Umsatz- und Gewinnorientierung der Unternehmen ist eine Voraussetzung für die Wettbewerbsfähigkeit in einer unaufhaltsamen technischen und gesellschaftlichen Evolution. Sie verstärkt aber auch die Konsumgesellschaft und versetzt uns damit in das Hamsterrad von Gelderwerb, Selbstdarstellung und Unterhaltung (fear of missing out). Sie sorgt für einen unersättlichen Ressourcenverbrauch, verfeinert die Überwachung des Einzelnen, schafft mächtige Instrumente zur Einflussnahme oder stärkt extreme politische Positionen. Sie erhöht die Komplexität des Lebens, was bei vielen Menschen ein Gefühl der Überforderung und der Entbehrung hervorruft.


Diesen Risiken steht ein noch nie dagewesener Wohlstand gegenüber. Auf welche der Errungenschaften wollen wir freiwillig verzichten: Handy, Navigation, E-Mail, Telearbeit, Online-Spiele oder Suchmaschinen? Oder auf zukünftige Innovationen, die auf maschineller Intelligenz beruhen: Sieg über den Krebs, unfallfreie Mobilität, stabile Stromnetze usw.?


Wie die biologische Evolution folgt auch die soziotechnische Evolution dem Prinzip des "Survival of the fittest". Ihr Kriterium ist nicht die körperliche Gesundheit, sondern vor allem das Kapital und die damit verbundene Macht. Wissen, Aussehen und soziale Gemeinschaften sind Mittel zu diesem Zweck. Von den Millionen von Apps und konkurrierenden Plattformen überleben nur die kommerziell erfolgreichsten.


Handlunsgdruck

Wissenschaft, Politik, Zivilgesellschaft und Medien beschäftigen sich zunehmend mit Fehlentwicklungen wie Monopolmacht, Filterblasen und Radikalisierung oder der Ersetzung des Menschen durch künstliche Intelligenz und entwickeln Regulierungsvorschläge und Visionen für das menschliche Wohlergehen. Beispiele hierfür sind die Bemühungen des IEEE um ethisch ausgerichtetes Design, die hochrangige Expertengruppe der EU für künstliche Intelligenz, die private Initiative Re-State Global oder die Vision von Technologieanbietern wie Huawei's "Intelligent World 2030". Die Gesetzgebung in der Europäischen Union und den USA, aber auch in China, setzt vieles davon bereits im Alltag um. Das Wissen um die Auswirkungen ist jedoch erst im Entstehen begriffen. Die Datenschutz-Grundverordnung (GDPR) zielt beispielsweise auf den Schutz der Privatsphäre ab, aber die Verbraucher opfern diese nur allzu leicht zugunsten der Bequemlichkeit. Wenn also die Megaportale (FANGMAN) weiterhin alle Daten sammeln, aber die Dienste kleiner neuer Marktteilnehmer keinen ausreichenden Zugang zu ihnen erhalten, könnte dies den hehren Zielen des Gesetzgebers zuwiderlaufen. Die Erlaubnis zur Datennutzung den Verbrauchern zu überlassen, ist geradezu unredlich, da selbst hochgebildete Nutzer die Folgen der Preisgabe ihrer Daten nicht abschätzen können.

Die Forderung nach Autonomie von Staaten und Individuen ist wohl als politisches Schlagwort zu verstehen, wenn es um mögliche Alternativen zu den dominierenden Chips, Betriebssystemen, Internet-Browsern, Cloud-Diensten, sozialen Netzwerken, Suchmaschinen und anderen Diensten geht.


Lebensqualitätsmodell

Laut Economist vom 7. Mai 2022 gibt es 400.000 Gesundheits-Apps mit Zugang zu 8.000 physiologischen und verhaltensbezogenen Daten von 1.200 digitalen Sensoren. Ein großer Teil dieser Dienste zielt darauf ab, die Lebensqualität zu verbessern, so wie es beispielsweise Microsoft Viva oder Apple Screen Time tun. Die Langlebigkeitsforschung will nicht nur das Leben verlängern, sondern auch eine hohe Lebensqualität erreichen. Doch weder die Psychologie noch die Neurologie noch die Philosophie sagen uns in greifbarer Form, was unsere Lebensqualität langfristig bestimmt. Wir haben also einen schnell wachsenden Werkzeugkasten, aber wenig Ahnung, was wir damit bauen wollen.


Der Ruf nach einer Life Engineering Disziplin

Die Informationstechnologie löst zusammen mit anderen Technologien wie Medizin, Werkstoffen und Energie einen Quantensprung in der soziotechnischen Entwicklung aus, bei dem die Technologie zunehmend in das Leben des Einzelnen und der Gesellschaft eingreift. Eine Disziplin des Life Engineering sollte uns die Konzepte zur Bewältigung dieses Wandels liefern. Dazu muss sie Fragen zu den folgenden Bereichen beantworten:


  • Technologische Entwicklung: Welche Technologien werden das Leben in den kommenden Jahren verändern? Metaverse, Sensorik, Mobilität, Meinungsbildung, autonome Waffensysteme usw.?

  • Persönliche digitale Assistenten: Welche Dienste unterstützen welche Lebensbereiche? Navigation, Depressionstherapie, private Verwaltung, Kommunikation, etc.

  • Digitales Abbild des Menschen: Welche Daten werden erzeugt und wer hat Zugriff darauf? Finanzen, Gesundheit, Arbeitseffizienz, Freizeitaktivitäten, politische Meinung, etc.

  • Individuelles und gesellschaftliches Verhalten: Welche Verhaltensmuster kennen wir aus den Nachbarwissenschaften und aus der Analyse von digitalen Zwillingen? Kaufverhalten, Schulsystem, Meinungsbildung, Wahlverhalten, kriminelle Aktivitäten usw.?

  • Lebensqualität: Welche Faktoren bestimmen die Lebensqualität und wie können sie aus Datenerhebungen abgeleitet werden? Einkommen, Freunde, Bequemlichkeit, Macht, Wissen, usw.?

  • Gestaltung des realen Lebens: Wie können wir das, was wir über Lebensqualität und Technologie wissen, auf das tägliche Leben von Einzelpersonen, Unternehmen und der Gesellschaft anwenden? Nutzungsberichte, Verhaltensempfehlungen, Coaching, Nudging, Scoring, Regulierung, usw.?


Ethische und humanistische Leitbilder prägen derzeit die Diskussion. Sie beruhen auf dogmatischen Begriffen wie Autonomie, Gleichheit, Würde, Recht auf Arbeit oder Selbstverwirklichung, ohne den Zusammenhang zwischen diesen Werten und der Lebensqualität zu präzisieren. Wenn wir das Leben zum Wohle der Menschen gestalten wollen, müssen wir diese Wertvorstellungen zu einem belastbaren Modell der Lebensqualität weiterentwickeln. Welche Disziplin ist dafür am besten geeignet: Informatik, Anthropologie, Lebenswissenschaften, Psychologie, Soziologie, Wirtschaftsinformatik oder Sozialinformatik? Die Wirtschaftsinformatik hat gute Voraussetzungen für ein solches Lehr- und Forschungsgebiet, da sie sich schon immer mit soziotechnischen Systemen, also der Integration verschiedener Disziplinen, beschäftigt hat. Es ist wahrscheinlicher, dass eine neue, eigenständige Disziplin des Life Engineering Antworten auf die anstehenden Herausforderungen der Digitalisierung geben kann, als dies in einer Wissenschaft mit fest verankerten Denk- und Bewertungsmustern möglich ist.

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