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  • AutorenbildHubert Österle

Corona oder Google & Co: Die Datenschutzdiskussion lenkt vom wirklichen Problem ab

Die Covid-19-Pandemie hat die Diskussion über Privatheit und Grundrechte angefacht. Doch die Argumente wirken bisweilen geradezu absurd, weil sie sich auf die Datensammlung statt auf die Datenverwendung konzentrieren. Damit lenken sie von der wahren Gefahr, der bereits vorhandenen und rasch zunehmenden Manipulation der Menschen ab. Es geht um vielmehr als um ein paar Bewegungsdaten.




Versetzen wir uns in das Jahr 2024. Du bist 31 Jahre alt, verheiratet und Mutter von zwei Kindern. Du bewirbst dich um eine Stelle als Filialleiterin in einem Supermarkt. Im ersten Vorstellungsgespräch fragt dich der Personalleiter der Supermarktkette, ob du wohl menschlich mit den Mitarbeitern dieses Marktes zurecht kommen würdest. Du bejahst natürlich, doch er hakt nach und konfrontiert dich damit, dass du über die letzten Wochen nur Menschen getroffen hast, die eine deutlich höhere Ausbildung als die Mitarbeiter dieses Marktes haben und entsprechend mehr verdienen. Ausserdem seien drei deiner Kontakte Drogenkonsumenten und fünf hätten eine schlechte Kreditgeschichte. Du kannst dem Personalleiter klarmachen, dass du beim derzeitigen Arbeitgeber bewiesen hast, dass dich genau diese Kontakte für die Stelle qualifizieren. Als er dich dann auf die häufigen Kontakte zum Leiter der Lebensmittelabteilung der Filiale, noch dazu jeweils für drei Stunden in einem Hotel, anspricht, kannst du den möglichen Konflikt in der Zusammenarbeit nicht leugnen und du bist aus dem Rennen um die Stelle.


Was hat das mit Corona zu tun? Wenn uns die Covid-19 Pandemie noch einzwei Jahre im Bann hält, die Tracing-Apps die erhoffte 70%-Verbreitung erreichen, aber das Ende von Covid-19 nicht offiziell erklärt wird und damit die automatische Erfassung von Kontaktdaten weiterläuft, ist genau ein derartiges Szenario denkbar, wenn die Anonymisierung der Daten nicht wie vereinbart eingehalten wird oder ein gewiefter Datenanalyst einen Weg findet, durch Kombination mehrerer Datenquellen die Personalisierung zu schaffen. Employment Screening Services, wie beispielsweise GoodHire versuchen mit den bereits heute verfügbaren Daten ein Rekrutierungsgespräch gründlich vorzubereiten.

Ein derartiges Szenario löst bei Datenschützern Alarm aus, auch wenn es Gegenstimmen gibt, die ein Employment Screening rechtfertigen, da es ja der Wahrheitsfindung dient, Täuschungen vermeidet und den Arbeitgeber vor einer Fehlentscheidung bewahrt. Ausserdem rechtfertigt im Fall der Tracing App der Zweck der Pandemiebekämpfung in den Augen vieler Bürger derartige Mittel. Noch gefährlicher wird es aber dann, wenn die Bewerberin für die Filialleitung aufgrund einer fehlerhaften Identifikation zum Gespräch nicht eingeladen wird und den Grund für die Ablehnung gar nicht erfährt. Die Medien, vor allem soziale Netzwerke, berichten immer wieder von derartigen Vorkommnissen.


Corona tracing schürt die Digitalisierungsangst


Wenn wir die Verbreitung von Covid-19 eindämmen und zu einem normalen Leben zurückkehren wollen, ist eine Tracing App, die uns auf Kontakte zu infizierten Personen aufmerksam macht, ein wichtiges Instrument. Epidemologen und Datenschützer liefern sich seit Wochen Diskussionen darüber, wie eine Kontaktverfolgung ohne Gefahren für den Datenschutz möglich ist und wie weit der Eingriff in die persönlichen Freiheiten gehen darf. Die damit geschaffene Verunsicherung wird es äusserst schwer machen, die benötigten 70% der Bürger zum Download und zur Nutzung einer Tracing App zu gewinnen. Vermutlich steht weniger die Angst vor einem konkreten Missbrauch von Daten, sondern vielmehr die Ungewissheit und Angst vor der Digitalisierung im Wege.

Wir müssen für die Corona-Pandemie beinahe dankbar sein, wenn sie zum Nachdenken über ein noch wichtigeres Thema, das Leben in der digitalisierten Welt (Informationsgesellschaft), zwingt. Die geplanten Apps, sei es auf Basis der europäischen Norm PEPP-PT (Pan-European Privacy-Preserving Proximity Tracing) oder beispielsweise der österreichischen Rotkreuz-App oder seien es landesspezifische Apps auf Basis von Apple und Google APIs können wesentlich dazu beitragen, eine Seuche mit teils verheerenden Folgen für die Lebensqualität zu beenden, gleichzeitig aber das Grundrecht des Schutzes der Privatsphäre gefährden. Wirst du eine Corona Tracing App verwenden, wenn du damit zur Eindämmung von Covid-19 beitragen kannst?




Lifestyle Apps sind gefährlicher


Ein gesunder Schlaf ist die Voraussetzung für eine hohe Lebensqualität, Schlafmangel lässt uns leiden, so dass Schlafentzug sogar als Folterinstrument eingesetzt wird. Es ist daher nicht überraschend, dass zahlreiche Unternehmen seit Jahren mit immer ausgefeilteren Techniken an sog. Schlaf-Apps arbeiten, die vielen Menschen zu einem besseren Schlaf und damit zum Wohlbefinden beitragen sollen. Ein digitaler Schlafcoach hat verglichen zu einer Corona Tracing App einen vielfach grösseren Datenhunger, denn er soll möglichst viele der Einflüsse auf die Schlafqualität berücksichtigen. Eine Smart Watch kann in Zukunft neben der Herzfrequenz den Blutdruck, die Hautoberflächenspannung (Stressindikator), die Sauerstoffsättigung des Blutes, Bewegungen des Menschen und Umgebungsgeräusche wahrnehmen. Sensoren im Schlafzimmer zeichnen die Luftqualität, die Helligkeit, Umgebungsgeräusche und elektrische Strahlung auf. Ein Schlafcoach sollte grundsätzlich auch Zugriff auf die Aktivitäten des Menschen vor dem Schlafen haben. So könnte er erkennen, ob der Mensch bis kurz vor dem Schlafen auf Facebook aktiv war, einen Thriller in Netflix angesehen hat oder ein hitziges Telefonat mit erregter Stimme geführt hat. In letzter Konsequenz braucht ein elektronischer Schlafcoach auch den Zugriff auf die Krankenakte, um daraus weitere Faktoren für das Schlafverhalten einzubeziehen. Wirst du einen digitalen Schlafcoach verwenden, wenn er viele der genannten Daten von dir verlangt, dir aber im Gegenzug einen erholsamen, gesunden Schlaf verspricht?





Wir geben unsere Privatheit und Autonomie freiwillig auf


Wenn es um unsere eigene Gesundheit geht, geben wir unsere Privatheit schnell auf. Doch die Schwelle liegt noch viel tiefer. Die Verwendung von Social Media, von Fitness Trackern, von Spielen, von Navigationsdiensten, von Nachrichten und Informationen und letztlich von geschäftlichen Transaktionen wie Reisebuchung und Banking zeigen, dass wir bereit sind, unsere Privatsphäre weit zu öffnen, selbst wenn der Nutzen nicht ohne Weiteres klar ist. Man denke nur an den Wert des Postens und Chattens auf Instagram oder des ständigen „Checkens“ des Nachrichteneingangs.

Wenn wir den allgemeinen Geschäftsbedingungen eines digitalen Services und damit der Datenverwendung zustimmen, schauen wir gewöhnlich nur auf die einzelne App, sofern wir überhaupt über die freigegebenen Daten nachdenken, geschweige denn die Vereinbarungen zum Datenschutz lesen oder sie gar noch verstehen.





Die chinesischen Apps WeChat und Alibaba gelten als Vorläufer von Superapps, die alle Dienste, die wir täglich brauchen, in einer einzigen App integrieren. Sie vereinigen neben den Basisfunktionen wie Chat, Payment und Shopping immer mehr spezifische Funktionalitäten, beispielsweise Taxiruf, Veranstaltungs­tickets, Terminvereinbarung mit dem Arzt, Spiele und zuletzt die „Corona-Ampel“, die einen QR-Code anzeigt, der in China den Zutritt zum Bahnhof oder zum Restaurant freigibt. Die Megaportale Facebook, Google, Apple, Amazon und Microsoft marschieren in die gleiche Richtung, indem sie Leistungen ehemals isolierter Apps in ihr Internetportal übernehmen. Die Megaportale arbeiten daran, dass ihre Kunden alles erledigen können, ohne ihre App verlassen zu müssen und ohne Daten, die sie in der einen Funktion schon eingegeben haben, in der anderen Funktion nochmal eingeben zu müssen.

Das Internet der Dinge (IoT) wird das Volumen, die Detaillierung, die Genauigkeit und die Aktualität der Daten in eine neue Dimension bringen, so dass eine Superapp beispielsweise auch all die erwähnten Sensordaten eines Schlafcoaches verwerten kann. Aus der Herzfrequenz, dem Hautwiderstand, der Stimmfarbe, dem Gesichtsausdruck usw. kann die Superapp ableiten, ob dir das Essen in einem Restaurant schmeckt oder ob dich das Gespräch mit bestimmten Kollegen langweilt. Marc Elsberg malt in seinem Science Fiction Roman „Code Zero“ eine Welt mit „allwissenden“ digitalen Assistenten geradezu geniesserisch aus.


Die integrierten Datenbestände der Superapps machen es nicht nur möglich, auf ein Individuum im Detail einzugehen, sie liefern darüber hinaus die Daten, die Voraussetzung für das Erkennen von Verhaltensmustern durch Deep Learning sind. So könnte der digitale Schlafcoach aus den Daten vieler Schläfer lernen, dass Herzrythmusstörungen, Teleconferencing bis in den Abend hinein und ein früher Wecktermin am anderen Tag für schlechten Schlaf sorgen, dass aber 15 Minuten Meditation mit ruhiger Musik oder ein kurzer Spaziergang die Tiefschlafphase verlängern können. „Kunden, die dieses Buch gekauft haben, haben auch diese Artikel gekauft“, ist eine vertraute Empfehlung auf Basis eines sehr einfachen Verhaltensmusters, die uns in ähnlicher Form an vielen Orten des Internets begegnen.


Die Kreativität von Millionen Software- und Hardwareentwicklern und die Motivation durch Geld und Macht sorgen für immer neue Funktionen unserer digitalen Begleiter. Ich habe vor zwei Jahren Netatmo zur Überwachung der Luftqualität in der Wohnung (Temperatur, CO2-Gehalt, Luftfeuchtigkeit, Geräuschpegel) installiert, evaluiere gerade eine Smartwatch zur Protokollierung meiner körperlichen Betätigung, dokumentiere und analysiere meine Bergtouren mit Maps 3D, suche für mein 13-jähriges Auto einen Nachfolger, der Fussgänger erkennt und Notbremsungen veranlassen kann, verwende neuerdings Apple Pay und habe die österreichische Rotkreuz-App installiert, um nur ein paar häufig genutzte Apps zu nennen.


Der Erfolg der Megaportale lässt erkennen,

· dass nur noch wenige Megaportale den Markt bestimmen,

· dass die Superapps dieser Portale in alle Lebensbereiche eindringen,

· dass wir unsere Privatsphäre freiwillig immer weiter aufmachen und

· dass die Megaportale Personen- und Sachdaten integrieren und damit ein umfassendes Bild der Menschen und ihrer Umgebung entwickeln.


Die Megaportale werden zur Infrastruktur unseres privaten Lebens, viel mehr als dies Elektrizität, Wasser und Strassen, ja sogar die öffentliche Verwaltung jemals waren. Sie treten mit ihren Regeln und Prozeduren sowie ihrer Macht sogar in Konkurrenz zu unserem Rechtssystem und unseren Nationalstaaten. Möglicherweise werden wir uns in ein paar Jahren fragen, warum wir in Europa über die Abgabe von nationalen Kompetenzen an die EU gestritten haben, statt uns um die Abgabe von Entscheidungen des persönlichen Lebens an die Megaportale zu kümmern.


Lebensqualität ist entscheidend, Privatheit und Autonomie sind ein Teil davon


Nützt oder schadet diese Form der Digitalisierung den Menschen? Tragen die Superapps mehr zum Wohl oder mehr zum Wehe der Menschen bei? Das oberste Ziel der Menschen ist Glück, oder etwas bescheidener formuliert, eine befriedigende Lebensqualität. Die Befriedigung unserer Bedürfnisse entscheidet über Freud und Leid. Privatheit und Autonomie sind in einem einfachen Lebensqualitätsmodell nicht als eigenständige Bedürfnisse ausgewiesen, sondern Voraussetzung für Bedürfnisse wie Gesundheit, Sicherheit, Macht, Rang und Kapital und haben bei uns daher einen hohen Stellenwert.





Megaportale mehren Konsum und Kapital


Facebook, Amazon, Microsoft, Apple, Netflix und Google sind so attraktiv, dass Milliarden von Menschen sie freiwillig und intensiv nutzen. Ihre Börsenbewertung ist gleich hoch wie die der grössten 100 europäischen Unternehmen zusammen, weil die Investoren an ihr weiterhin dynamisches Wachstum glauben. Wenn Kundenbedürfnis und Kapital derart zusammenpassen, dann muss die Welt doch in bester Ordnung sein.

Facebook versorgt seine Benutzer mit Informationen und Nachrichten, die sie hören und sehen wollen. Instagram zeigt uns u.a., welche Kleider unsere Vorbilder tragen. Youtube bietet Millionen von Videos, die uns teilweise ausbilden, meist aber unterhalten. Netflix bietet uns Filme, mit deren Helden wir uns gerne identifizieren und deren Werte und Verhalten wir übernehmen. Amazon bietet ein schier unbegrenztes Angebot von Artikeln, von denen wir bis dahin gar nicht wussten, dass wir sie brauchen. Die Megaportale schaffen also zuerst unsere Werte und unser Weltbild und befriedigen dann die daraus resultierenden Bedürfnisse mit ihren oder von ihnen beworbenen Angeboten. Das Wissen der Megaportale über uns und unser Verhalten ermöglicht ihnen eine bis auf den Einzelnen individualisierte Beeinflussung und das passende Angebot, das wir dann als besonders nützlich empfinden.

Zahllose Publikationen berichten über die Geschichte, die Motive und die Geschäftspraktiken der finanziell so herausragenden Megaportale. Ihr Erfolg wird letztlich an einer einzigen Grösse gemessen, dem Börsenwert. Initiativen ihrer Mitarbeiter, ihrer Kunden, ihrer Lieferanten, von Non-profit-Organisationen, Gewerkschaften und Verbraucherschützern sowie der Politiker schaffen gewisse Grenzen, innerhalb derer die Gewinnmaximierung stattfindet.


Die Gewinnmaximierung der Megaportale läuft über den sog. Kundennutzen. Das ist der Nutzen, den die Kunden von einem Produkt erwarten: Lust aus Nahrung oder Sex, Freude durch Verbesserung des Aussehens, Befriedigung durch Macht und Einkommen. Das sind die Gefühle, die aus kurzfristiger Bedürfnisbefriedigung (Hedonia) entstehen, die aber meist sehr flüchtig sind.


Werbung versucht seit eh und je, uns zum Konsum von Produkten und Dienstleistungen zu bewegen, doch die Digitalisierung hebt ihre Möglichkeiten auf ein neues Niveau. Das Quantified Self der Konsumenten, das wachsende Verständnis unseres Verhaltens und das zunehmende Wissen über die Funktionsweise des Hirns sind die Basis für eine bedrohliche Manipulation. Unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem nutzt unsere Stärken und Schwächen beinahe bedenkenlos. Diese Manipulation führt zu Umweltschäden durch unsinnigen Konsum, zur Verschuldung der Konsumenten und steckt uns in ein stressiges Hamsterrad, in dem wir immer schneller treten müssen, um die Konsumerwartungen erfüllen zu können. In sozialen Netzwerken wie Instagram präsentieren sich Menschen aller Altersklassen möglichst attraktiv und heizen damit den Wettlauf um Ansehen und Rang innerhalb ihrer Gemeinschaft an.


Auch wenn es in den Vision- und Missionstatements oder in der Werbung der Unternehmen anders klingt, ist die dauerhafte Zufriedenheit der Menschen (Eudaimonia) nicht das Ziel der Unternehmen, ja kann es gar nicht sein, denn Zufriedenheit erzeugt wenig Konsumbe­dürfnis. Es ist also sehr ernsthaft zu fragen, ob die Megaportale mit ihrer absoluten Konsumorientierung mehr zum Glück oder mehr zum Unglück der Menschen beitragen. Fest steht lediglich, dass sie uns immer besser kennen und sie uns in immer mehr Bereichen des Lebens helfen, unterstützen, anleiten oder managen, um damit schliesslich Umsatz und Gewinn zu generieren. Wir überlassen den Megaportalen nicht nur unsere Daten, sondern zunehmend die Gestaltung unseres Lebens.


Social Scoring kann Macht sichern und Konflikte reduzieren


Das chinesische Social Scoring dient den westlichen Medien durchwegs als Schreckens­vision eines totalitären Überwachungsstaates. Doch westliche Wissenschaftler fangen neuerdings an, daraus auch Anregungen für unser Gesellschaftssystem zu prüfen. Jede Gesellschaft funktioniert nur auf Basis von Verhaltensregeln, vom Strassenverkehr über das Geschäftsgebaren bis zur Gewaltanwendung. Erziehung und Ausbildung vermitteln diese Regeln, Polizei und Gerichte sorgen für die Durchsetzung.


Die Datensammlungen der digitalen Dienste liefern neue, zusätzliche Möglichkeiten, das Verhalten von Menschen zu beurteilen. Google und Apple sind mit ihren Datensammlungen bereits heute, also ohne eine Tracing App, in der Lage, ein Rekrutierungsgespräch wie beschrieben vorzubereiten. Wir haben uns an das Flensburger Zentralregister für Verkehrssünder und an die Kreditauskunft von Creditreform bis Schufa gewöhnt. Airbnb bewertet Vermieter, und Uber berichtet über die Qualität von Fahrern. Wissenschafler lassen sich über ResearchGate, Mendeley, Google Scholar usw. bewerten, und die Berufung von Professoren orientiert sich am weitgehend automatisch abgeleiteten h-Index. Ärzte u.a. Berufe achten auf die Bewertung durch ihre Patienten auf Portalen wie Healthgrads und Jameda. Das Neue am chinesischen Social Scoring ist wohl vor allem, dass es auf weitere, maschinell erfasste Daten zurückgreift, ein umfassenderes System bildet und die Ziele und die Kriterien öffentlich diskutiert. Es überrascht wohl viele, dass der weitaus überwiegende Teil der chinesischen Bevölkerung in den bisherigen Pilotanwendungen das Social Scoring begrüsst.


Wenn man stark idealisierend davon ausgeht, dass die Auftraggeber und Entwickler eines Social Scoring das erwähnte Ziel der Formulierung und Durchsetzung von gesellschaftlichen Regeln verfolgen, so kann es eine äusserst wertvolle Ergänzung von Erziehung, Ausbildung und Durchsetzung sein. Es ist transparent, basiert auf automatischer und daher objektiver Datenerfassung und benutzt Belohnung und Bestrafung, anstatt nur auf Sanktionierung von Fehlverhalten zu setzen, wie es unsere Strafgesetzgebung tut. Es arbeitet mit kleinen Dosen und wird nicht erst aktiv, wenn grobe Verstösse vorliegen.


Es liegt nahe, dass die kommunistische Partei Chinas das Social Scoring als Instrument zum Erhalt und Ausbau ihrer Macht versteht, so wie auch die Politiker von Mehrparteien-Demokratien westlicher Prägung die Medien zur Verkündung ihrer Botschaft instrumentalisieren und dazu bisweilen nicht einmal von der Verbreitung grober Falschnachrichten zurückschrecken. Manchen Staaten wird zurecht vorgeworfen, dass die Machtelite auch die Justiz für ihre Interessen einsetzt. Gerade wir Europäer haben viel Erfahrung mit Bespitzelung, Unterdrückung und Machtmissbrauch durch den Staat, die Kirche, die Verbände und die Vereine. Es ist uns bewusst, dass die staatlichen Sicherheitsdienste so gut wie alle digitalen Personendaten nutzen können, um die Sicherheit der Mitbürger zu schützen oder Gefahren zu erkennen, die möglicherweise dem demokratisch vereinbarten Gesellschaftssystem widersprechen.


Letztlich geht es beim Social Scoring wie bei den Megaportalen um die Beeinflussung und Lenkung der Bürger. Im Gegensatz zu den Megaportalen ist ihr Ziel nicht die Mehrung des Kapitals, sondern eine möglichst gut funktionierende Gesellschaft. Die Geschichte zeigt jedoch, dass selbst gut gemeinte Organisationen mit edlen Zielen leicht zur Sicherung oder zum Ausbau der Macht der herrschenden Elite missbraucht werden, wenn keine funktionierenden Kontrollmechanismen wie eine unabhängige Justiz oder freie Medien eingebaut sind. Gerade die Digitalisierung bietet eine Chance, die Transparenz deutlich zu erhöhen, und birgt die Gefahr, „alternative Fakten“ zu verbreiten.


Verzichten wir auf Privatheit und Freiheit?


Die Digitalisierung hat uns unzählige Services und Produkte gebracht, die uns in allen Bereichen des Lebens helfen. Wer möchte beispielsweise auf die Navigation, die Suche im Internet oder die Wettervorhersage verzichten? Damit haben wir Entscheidungen an die Maschinen delegiert, denn nicht du, sondern Google Maps entscheidet, welche Route du fährst, nicht du, sondern die Suchmaschine entscheidet, welche Informationen du findest, und nicht du, sondern die Maschine entscheidet, wie der Luftdruck und andere Wettermesswerte interpretiert werden. Wir haben aber nicht nur die Entscheidungen delegiert, sondern verlieren auch unsere Fähigkeiten: Gerade junge Menschen tun sich schwer, nur mit Strassenkarte und -schildern ein Ziel anzufahren. Dass es einmal Fähigkeiten zur manuellen Suche von Informationen (z.B. einen Bibliothekskatalog) gab, ist uns schon gar nicht mehr bewusst. Und die Fähigkeit, aus dem Luftdruck, den Wolkenformationen und anderen Wetterphänomenen eine Vorhersage abzuleiten, kommt uns ebenso abhanden.

Die Entwicklung neuer digitaler Dienste ist nicht aufzuhalten, und wir werden sie verwenden, wenn sie uns genügend Nutzen versprechen. Selbst wenn wir gewisse Dienste ablehnen und wir sie in unserem Einflussbereich verhindern können, werden andere daran arbeiten. Wenn wir beispielsweise auf die Entwicklung eines Schlafcoaches verzichten, weil er auf zuviele unserer Daten zugreifen will oder muss, werden wir ihn wahrscheinlich trotzdem nutzen, wenn wir an Schlaflosigkeit und dadurch ausgelösten depressiven Stimmungen leiden.


Es ist Zeit, die weitere Digitalisierung und generell Technisierung zu akzeptieren, auch wenn wir überfordert sind, die Möglichkeiten und Konsequenzen umfassend zu verstehen. Wenn die Komplexität für rationale Entscheidungen zu hoch wird, neigen wir dazu, auf den Bauch zu hören, wir argumentieren mit den Gefühlen. Hinter hehren ethischen Ansprüchen wie Schutz der Privatheit, Autonomie, Gleichberechtigung und Fairness, die regelmässig zur Forderung nach zusätzlicher Reglementierung führen, verbirgt sich möglicherweise die Angst vor einem Leben in einer technisierten Welt, die wir im Moment noch nicht verstehen und die wir nicht wahrhaben wollen.


In der Agrargesellschaft hatten die Menschen wenigstens das Gefühl, die Konsequenzen ihrer Entscheidungen, also beispielsweise des Düngens, zu verstehen und Herr ihrer Entscheidungen zu sein. In der Informationsgesellschaft sind wir regelmässig überfordert und bemühen Heerscharen von Experten. Wir erleben derzeit am Beispiel Covid-19 schmerzvoll, dass diese Experten die Komplexität zwar besser als der Laie, aber doch auch nicht so gut verstehen, dass sie zu gleichlautenden Empfehlungen kämen. Die Komplexität scheint nicht bewältigbar und Populisten bedienen das Bauchgefühl der Überforderung mit simplizistischen Parolen.


Wenn wir die Entwicklung zu unserem Wohle beeinflussen wollen, können wir nicht versuchen, die technologische Innovation zu stoppen oder sie anderen zu überlassen, sondern müssen sie selbst steuern. Dazu brauchen wir ein besseres Verständnis davon, was Lebensqualität überhaupt ausmacht, und brauchen die Wettbewerbsfähigkeit mindestens in einzelnen Technologien, gemäss dem Leitsatz „Führe oder werde geführt!“.

Eine Disziplin Life Engineering muss die Grundlage zur Organisation der Informationsgesellschaft liefern. Sie muss die Erkenntnisse der Psychologie, Neurowissenschaften, Informatik, Philosophie, Ökonomie, Managementlehre, Statistik (Maschinenlernen) usw. zusammenführen. Ein einzelner Wissenschafter wie der Schreibende ist überfordert. Lieber Leser dieser Zeilen, ich lade dich ein, dich an der Diskussion zum Life Engineering zu beteiligen. Nutze die Kanäle LinkedIn, Medium, Facebook, Twitter und den Blog auf www.lifeengineering.ch. Oder hältst du das Thema für zu irrelevant, zu komplex und abstrakt?


Die Covid-Pandemie scheint unsere Grundrechte zu beschneiden. Doch verglichen zu den Auswirkungen der Digitalisierung sind die Eingriffe auf mittlere Sicht fast bedeutungslos. Da wir die Digitalisierung nicht aufhalten wollen oder können, müssen wir uns den Veränderungen stellen. Ob es uns passt oder nicht, müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass die Megaportale, die Innovationsführer, die bestkapitalisierten Start-ups und die Unternehmen, die der geringsten Regulierung unterliegen, die Services bestimmen werden, die wir nutzen werden. Technologische und unternehmerische Rückständigkeit bedeutet nicht nur Einkommens- und Machtverlust, sondern auch den Verlust an Souveränität. Andreas Göldi hat die Situation, die zum Verlust unserer digitalen Selbständigkeit geführt hat, in seinem Aufsatz „A blind spot for the dark side: the monopolies we didn’t see coming“ zusammengefasst. Es ist zu hoffen, dass eine rationale, von Wunschdenken und Emotionen befreite Analyse der Möglichkeiten und Rahmenbedingungen es erübrigt, dass er in zwanzig Jahren nochmal einen Beitrag mit gleichem Inhalt schreiben muss.


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