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  • Writer's pictureHubert Österle

Corona - Ethik vs Lebensqualität

Der Epidemiologe Marcel Salathé empfiehlt der Schweiz die Methode „Test – Isolate – Quarantine" zur Bekämpfung der Covid-19-Epidemie. Dazu gehört auch das Proximity Tracing, also die Suche mittels Handydaten nach Personen, mit denen ein Infizierter in den letzten Tagen Kontakt hatte, um so möglichst schnell weitere Infizierte zu entdecken und die Weiterverbreitung des Virus zu reduzieren. Dieses Vorgehen hat in Südkorea offensichtlich zu einer schnellen Eindämmung der Epidemie geführt und wird vielerorts als Vorbild bezeichnet.


Der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn will Infizierte und deren Kontaktpersonen per Handy orten; die Bundesjustizministerin Christine Lambrecht lehnt dies ab und weiss einen Chor von Datenschützern hinter sich.

Die Epidemiologen wollen das Leid der Covid-19-Krankheit und die wirtschaftlichen und gesellschftlichen Folgen der Stilllegung von Betrieben begrenzen, die Datenschützer die Freiheitsrechte der Bürger schützen. Juristen verlangen in derartigen Situationen eine Güterabwägung. Der Schutz der Privatsphäre ist selbst zu Zeiten einer Pandemie ein Thema, das die Aufmerksamkeit in einer medienüberlasteten Gesellschaft gewinnen kann. Privatheit ist ein emotional äusserst aufgeladener Begriff, so dass die Gefahr besteht, dass es zu einem Kampf zwischen rationalen Argumenten und Emotionen von Gutmenschen kommt. Die Entscheidung für oder gegen die Nutzung von Personendaten zur Eindämmung der Epidemie ist ein hervorragendes Fallbeispiel für die Anwendung ethischer Leitlinien.


Um welche Daten geht es?


Vielfach wird argumentiert, dass die Daten der Telekommunikationsunternehmen viel zu ungenau sind, um daraus ein Proximity Tracing und eine Benachrichtigung von potentiell infizierten Personen zu realisieren, dass vielmehr eine Vielzahl von Datenquellen (Kreditkarten, Kameras mit Gesichtserkennung usw.) notwendig ist und damit der Datenschutz nicht mehr kontrollierbar wäre.

Zu den Daten der Telekommunikationsunternehmen ist zu sagen, dass diese z.B. in Verbindung mit den Personendaten der Bahngesellschaften seit langem genutzt werden, um die Verkehrsströme besser zu verstehen und den Einsatz der öffentlichen Verkehrsmittel effizient zu gestalten, aber tatsächlich nur ein sehr grobes Raster bieten. Zu den übrigen Daten, die für ein Proximity Tracing benötigt werden, ist ein Vergleich zu bereits weltweit freiwillig akzeptierten digitalen Services naheliegend. Nutzer von Google Maps erlauben meist ohne Kenntnis eine sehr detaillierte Aufzeichnung der Bewegungsdaten, die bis auf Gebäude, ja sogar einzelne Räume reichen. Google besitzt darüber hinaus meist auch die Kontaktdaten der Maps-Benutzer, kann also feststellen, welche Bekannten zur gleichen Zeit am gleichen Ort waren. Google wäre darüber hinaus technisch in der Lage, auch ohne die Kontaktdaten festzustellen, welche Maps-Benutzer zu einer bestimmten Zeit an demselben Ort waren. Google liefert uns in der Suche nach Restaurants in der Nähe unseres Aufenthaltortes Empfehlungen, die unseren Präferenzen, abgeleitet aus früherem Verhalten, entsprechen. Tinder und ähnliche Apps stehen Google bezüglich Lokationsdaten und Persönlichkeitsprofilen wenig nach.

Warum also akzeptiert ein Grossteil der Bevölkerung, dass Google, Apple und viele andere digitale Services für einen geringen Nutzen aus personalisierter Werbung und individuellen Kaufempfehlungen ihre persönlichen Daten nutzen, um auf der anderen Seite aufzuschreien, wenn derartige Daten zum Schutz der Gesundheit, der Wirtschaft und damit der Gesellschaft eingesetzt werden sollen. Wer nach Privatheit ruft, möge auf dem Google Dashboard prüfen, was Google über ihn weiss. Er möge weiter überlegen, wer in seinem Bekanntenkreis diese Dienste nutzt und wer die Datenaufzeichnung explizit eingeschränkt hat.


Digitale Services sind komplex und überfordern unsere Entscheidungsfähigkeit.


Google Dashboard ist äusserst benutzerfreundlich, so dass auch digitale Laien sich darin zurechtfinden können. Doch wer prüft die Daten- und Personalisierungseinstellungen von Google, bevor er Maps, Search, Gmail oder Youtube verwendet? Selbst wenn ein Serviceanbieter alle Vorschriften des Datenschutzes (z.B. der DSGVO) einhält, sind 99% der Konsumenten überfordert, sei es zeitlich oder sei es wissensmässig.

Datenschutzgesetze, ethische Leitlinien wie die des Ethically Aligned Design der IEEE oder die Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Serviceanbieter wie Google verwenden für die Privatheit immer wieder eine Zauberformel, nämlich die Zustimmung des Benutzers zur Datenverwendung einzuholen. Diese Standardempfehlung ist aber weitgehend wertlos, da die Komplexität die Laien überfordert und damit nur eine Illusion von Transparenz und Kontrolle vermittelt wird. Möglicherweise drücken sich die dafür Verantwortlichen einfach vor der Entscheidung, wer welche Daten zu welchem Zweck benutzen darf.


Gefühle sind stärker als die Vernunft.


Unsere Bequemlichkeit und unser Wissen hindern uns daran, uns ausreichend zu informieren. Statt dessen lesen oder hören wir lieber vorgefertigte Meinungehttps://de.lifeengineering.ch/n, die wir gefühlsmässig für richtig halten, die scheinbar unseren Bedürfnissen entsprechen und die wir daher gerne übernehmen. Bücher wie „The Age of Surveillance Capitalism“ (Shoshana Zuboff) oder „Zucked: Waking Up to the Facebook Catastrophe“ (Roger McNamee) öffnen uns die Augen, bereiten aber gleichzeitig den Boden für Ängste und schaffen nicht die Basis für eine konstruktive Datennutzung.

Um rational zu klären, welche Daten für ein Proximity Tracing genutzt werden sollen, müssen wir im Sinne der Güterabwägung prüfen, welche Bedürfnisse der Menschen positiv oder negativ von der Nutzung dieser Daten betroffen sein können. Da ist zunächst das Bedürfnis nach Sicherheit, das Schutz vor Willkür wie dem Entzug der physischen Freiheit und ein unabhängiges Rechtssystem verlangt. Dann die Angst vor dem Verlust von Ansehen, dem Rang in unserer Gemeinschaft. Werden wir geächtet, wenn unsere Bekannten von unserem Gesundheitszustand erfahren? Oder verlieren wir an Ansehen, wenn, wie es in Südkorea offensichtlich passiert ist, öffentlich wird, dass wir bei einer Zusammenkunft einer religiösen Sekte dabei waren? Oder schadet es einem Arzt finanziell, wenn bekannt wird, dass ein Mitglied seiner Verwandschaft Covid-19 positiv getestet worden ist?


Diesen Bedrohungen steht die Hoffnung gegenüber, durch eine schnelle Rückwärtsverfolgung von Kontakten mögliche Ansteckungen frühzeitig zu entdecken und durch Quarantäne weitere Ansteckungen zu vermeiden. Wenn man die Bilder des Schreckens, die aus Covid-19-Hot-spots übermittelt werden, vor Augen hat, wird es nachvollziehbar, dass wir viele Bedürfnisse zum Wohle der Gesundheit zurückstellen. Dazu kommt das Bedürfnis nach finanzieller Versorgung, das die Voraussetzung für fast alle anderen Bedürfnisse ist, also ebenso stark ins Gewicht fällt, insbesondere wenn die Versorgung mit Nahrung wie derzeit z.B. in Indien infragegestellt ist.


Die Entscheidungsträger, ob Gesundheits- oder Justizminister, ob Epidemiologe oder Laie, müssen diese Güterabwägung noch viel detaillierter und faktenbasierter betreiben, als dies hier in der Kürze geschehen kann. Die Ethik hat in einer Situation, wie wir sie gerade durch das Coronavirus Sars-Cov-2 erleben, eine besondere Herausforderung, sei es bei der Entscheidung über die Nutzung von Personendaten oder sei es bei der Triagierung der Covid-19-Patienten. Es ist einerseits erstaunlich, wie wenig darüber öffentlich diskutiert wird, andererseits verständlich, wenn man bedenkt, dass diese Argumentationen viel zu diffizil sind, als dass sie ohne langzeitige Beschäftigung damit seriös zu betreiben sind. Doch gerade das sollten Ethiker, Datenschützer und möglicherweise auch Epidemiologen der Politik empfehlen und zur Meinungsbildung in der Öffentlichkeit beitragen. Es ist wenig davon zu spüren.


Notlösungen sind keine Lösungen.


Das Projekt Pepp-PT (Pan European Privacy Protecting Proximity Tracing) entwickelt derzeit ein Template für länderspezifische Apps. Aus Sicht von Netzpolitik.org, einer Plattform für digitale Freiheitsrechte, handelt es sich um eine „datensparsame und epidemiologisch vorzugswürdige Alternative“ zur Nutzung der Daten der sog. Datenkraken. Das österreichische Rote Kreuz bietet bereits eine landesspezifische App kostenlos an. Die App hat den Vorteil, dass sie Kontakte nur dann als solche erfasst, wenn Personen nur wenige Meter voneinander entfernt sind. Singapur setzt eine ähnliche App (TraceTogether) ein, die automatisch und anonymisiert alle derartigen Kontakte auf dem Handy speichert.


Im Gegensatz zur Nutzung von Daten aus Google verlangt diese Lösung aber von den Nutzern den Download einer App, einen digitalen Handshake beim Treffen mit anderen App-Nutzern und die Meldung einer ärztlichen Bestätigung im Falle der Infektion. Mein Versuch, Personen zu einem digitalen Handshake zu bewegen, hat nur verständnisloses Kopfschütteln ausgelöst. Google Play weist mehr als 50´000 Downloads und 461 Bewertungen seit dem 25.3.2020 aus. Auch wenn die App 100´000 mal installiert und dann auch noch tatsächlich genutzt würde, wären dies erst etwa 1% aller Österreicher.


Viel wirkungsvoller und schneller, wenngleich nicht ganz so genau wäre ein Proximity Tracing auf Basis von Navigationsdaten von Google und Apple. Regierungen könnten ggf. sogar das Tracing an Google auslagern und staatlich eng überwachen. Google bestätigte gegenüber „The Verge“, derartige Anfragen von Gesundheitsbehörden erhalten, doch abgelehnt zu haben, weil aus den Googledaten nicht ausreichend sicher auf einen Kontakt geschlossen werden könne. Mein persönlicher Versuch mit Freunden, unsere Location History bei Google zu vergleichen, hat dagegen erstaunlich zuverlässige Ergebnisse gebracht.

Wenn die Politik Bedenken wegen einer negativen Reaktion der Wähler hätte, könnte sie sogar mit einer SMS oder einer Google- und Apple-Nachricht die explizite Erlaubnis jedes Bürgers einholen. Doch auch Google könnte vor einer unerwünschten Reaktion der Öffentlichkeit zurückschrecken.


Die Corona-Krise ist ein eindrückliches Beispiel dafür, welche Aufgaben die Ethik und andere Disziplinen zur Sicherung und Steigerung unserer Lebensqualität haben, welche Gefahren in einer Emotionalsierung derartiger Themen liegt und was mit einer Güterabwägung auf Basis eines sehr einfachen Lebensqualitätsmodells mögllich wäre.



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